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Edvard Munch zu Gast in der Villa Esche



»Er ist ein bißchen komisch, phantastisch, aber ein guter Junge.«

Henry van de Velde

Der norwegische Maler und Graphiker Edvard Munch (1863-1944) war im September und Oktober 1905 Gast Herbert Esches in Chemnitz. Sein Werk war zu dieser Zeit in Deutschland bei den Sammlern, die sich für zeitgenössische avantgardistische Kunst interessierten, außerordentlich populär. 1905 zeigte der Kunstsalon Cassirer in Berlin eine Porträtausstellung von ihm, und der Kunstverein Manes in Prag stellte 75 seiner Gemälde vor, darunter die ursprüngliche Version des »Lebensfries«. Möglicherweise hatte Herbert Esche den »Lebensfries« schon 1903 in Leipzig in der Galerie P. F. Beyer und Sohn gesehen. Bei einem heftigen Streit Munchs mit Ludvig Karsten war es 1905 zu Handgreiflichkeiten gekommen. Der Text »Die Stadt der freien Liebe« entstand im selben Jahr. Bis 1909 mied Munch Norwegen und hielt sich fast ausschließlich in Deutschland auf.

Herbert Esches Kontakt zu Munch vermittelte der Lübecker Augenarzt Dr. Max Linde, den das Ehepaar Esche besucht hatte, um seine Sammlung mit Bildern und Graphiken Munchs kennenzulernen. Linde hatte 1902 ein Buch über »Edvard Munch und die Kunst der Zukunft« veröffentlicht.

Der Aufenthalt Munchs in Chemnitz ist inzwischen schon Legende geworden. Es gibt darüber verschiedene Versionen.

Eine davon erzählte mir in den sechziger Jahren die Schwägerin Herbert Esches, Gertrud Esche. Die ausführlichste Schilderung seines Aufenthaltes in Chemnitz stammt aus der Feder des Malers Ivo Hauptmann (1886-1973), der mit der Familie Esche befreundet und in Erdmute Esche verliebt war: »Esche hatte die Absicht, seine Familie malen zu lassen und fragte van de Velde, wen er ihm dafür vorschlüge. Er nannte Edvard Munch, der in Lübeck die Kinder eines Herrn Linde gemalt hatte. Esche bat Munch zu kommen, erhielt jedoch keine Antwort. Eines Tages, man rechnete nicht mehr mit ihm, brachte der Postbote ein Telegramm: >Bin morgen in Chemnitz Munch<. Man war überrascht und wartete ab... Er erschien ohne Gepäck mit einem wasserdichten Gummimantel über einem alten Anzug. Kein Material, um malen zu können. Herr Esche hatte ihm in seinem schönen Haus ein Wohnzimmer, ein Schlafzimmer und ein Badezimmer zur Verfügung gestellt. Auf dem Nachttisch stand eine Flasche Kognak zur Stärkung für die Nacht, die jeden Morgen leer war. Munch war ein schöner Mann, groß, blond, mit einem sehr starken Kinn, melancholischen, etwas blutunterlaufenen blauen Augen. Er bewegte sich langsam und sprach kein Wort. Familie Esche betrachtete den Fremdling bei den verschiedenen Mahlzeiten und machte sich Gedanken über das merkwürdige Verhalten des Künstlers.«

Frau Esche hatte ihre Kinder täglich herausgeputzt, weil sie hoffte, daß diese Modell stehen sollten. Da zunächst nichts in diese Richtung geschah, wandte man sich um Rat an Dr. Max Linde in Lübeck. Er riet: »Das beste ist, ihn machen zu lassen. Dann taut er langsam auf, und seine nordische Verschlossenheit schwindet. Dann stehen sie einer wunderbaren, vielschichtigen Person gegenüber und lernen ihn schätzen. Munch kann wochenlang umhergehen und beobachten, ohne den Pinsel auf die Leinwand zu setzen. >Ich male mit meinem Gehirne<, sagt er oft in seinem gebrochenen Deutsch. Er arbeitet lange, indem er die Eindrücke nur in sich aufsaugt, um plötzlich mit elementarer Kraft und Schwere schnell zu formen, was er gesehen hat. Dann werden seine Bilder in Tagen, ja in Stunden fertig.« Die Spontaneität, aus der Munch heraus arbeitete, ist den Bildern, die im Auftrag Esches entstanden sind, anzusehen. Die Kohlevorzeichnungen scheinen zum Teil durch. Der Knabe auf dem Kinderbildnis ist direkt, ohne Grundierung und Vorzeichnung auf die Leinwand gemalt. Es ist eine Photographie überliefert, die mit dem Gruppenbild fast identisch ist.

Kurz nach der Jahrhundertwende wurde das Kinderporträt zu einem bevorzugten Genre Munchs. »Er malte Kinder, die zum Geschäftsmann und zur Dame bestimmt sind. Der normierte Verhaltenskodex ist jedoch sichtbar angelernt, die Anstrengung, erwachsen zu wirken, ist beiden anzumerken...«

Ivo Hauptmann fährt in seinen Erinnerungen fort: »Drei Wochen vergingen, ohne daß irgendeine Änderung eingetreten wäre. Eines Tages war Munch weg. Einen Tag, zwei Tage, drei Tage. Esche wurde unruhig, setzte sich mit der Polizei in Verbindung... (man fand ihn im) Lokal >Der Wind<. Er hatte alle eingeladen, aber bisher nicht gezahlt. Die Schulden betrugen 100 Mark. Esche bezahlte den Betrag. Munch kam zurück, trank jede Nacht die Flasche Kognak, kam zum Frühstück, Mittag-, Abendessen, sprach kein Wort. So vergingen weitere drei Wochen, ohne daß irgendeine Anstalt getroffen wurde, ein Porträt zu malen... Jetzt erkundigte sich Munch, in welchem Geschäft in Chemnitz man Leinwand in verschiedenen Größen... Farben, Pinsel, Terpentin und eine Staffelei kaufen könnte. Er kaufte ein und dann ging es los. Er malte Frau Esche, den Mann, die beiden Kinder zusammen, die beiden Kinder einzeln, so daß in acht Tagen fünf oder sechs Bilder entstanden, einige meisterhaft. Esche war zufrieden. Er zahlte ihm 3.000 Mark und Munch siedelte nach Weimar über...«

Im Gegensatz zu den Erinnerungen Ivo Hauptmanns ist belegt, daß Esche mit den Arbeiten Munchs nicht zufrieden war. Auf seinen Protest hin antwortete ihm Munch, er habe die Technik bei Vincent van Gogh gelernt. Dazu bemerkte Herbert Esche, der selbst das Bild »Ernte in der Provence« von van Gogh besaß, daß dies seiner Auf­fassung nach nicht stimme, und beklagte sich darüber hinaus über die kaum trocknenden Farben. Herbert Esche war im Sinne der »Brücke« selbst ein keinesfalls zu unterschätzender dilettierender Maler. Es ist auch bekannt, daß er Gemälde von Renoir, Signac und eine umfangreiche Sammlung an Graphik von Rudolf Grossmann besaß.

 

 

Die Brücke

"Die Brücke" wird 1905 in Dresden von vier Malern gegründet: Heckel, Bleyl, Kirchner und Schmidt-Rottluff. Bleyl verläßt vier Jahre später die Gruppe und gibt die Malerei auf.

Die Maler "der Brücke" arbeiten gemeinsam in den Ateliers von Heckel und Kirchner. Sie schmücken und gestalten diese Räume auf besondere Weise. Die Möbel werden aus rohen, mit grellen Farben bemalten Holzkisten gemacht. Malereien in monumentalem Stil bedecken die Wände. Die erste Ausstellung der Gruppe findet in einer Fabrik für Beleuchtungskörper statt. Sie organisieren eine Wanderausstellung, die in Leipzig; Hamburg und anderen deutschen Städten zu sehen ist. Die Mitglieder der Vereinigung trennen sich nicht einmal in den Sommermonaten. Sie verbringen diese Zeit in der Umgebung Dresdens und arbeiten unter freiem Himmel. Max Pechstein verläßt Dresden 1908 und richtet sich in Berlin, wo er ein breites Tätigkeitsfeld zu finden hofft, ein Atelier ein. 1910 gründet er, als Reaktion auf die Ablehnung all seiner Bilder durch die Jury der "Berliner Sezession", die "Neue Sezession". An dieser Ausstellung nehmen seine Gefährten von der "Brücke" teil. Etwas später tritt die Gruppe gemeinsam in einer Düsseldorfer Galerie vor die Öffentlichkeit, dann, 1912, in Berlin, Hamburg und München, wo sie sich mit der Gruppe des "Blauen Reiters" zusammentut. Nach einer letzten gemeinsamen Ausstellung im Münchener "Neuen Kunstsalon" löst sich die "Brücke" auf: die Meinungsverschiedenheiten zwischen Kirchner und seinen Gefährten sind zu groß geworden.

Geht es dem norddeutschen Expressionismus mit der Künstlergemeinschaft "Brücke" um die Spontaneität des Ausdrucks innerer Empfindung, um die Vereinfachung der Formen und die Radikalisierung der Bildwelt zur Steigerung ihrer Aussagefähigkeit, so geht es dem süddeutschen Expressionismus in sehr viel stärkerem Maße zugleich auch um die theoretische Fundierung der bildnerischen Bestrebungen. Vor allem ist Wassily Kandinsky der führende Theoretiker der Gruppe "Der Blaue Reiter".

 

Der Blaue Reiter

Die Künstlergemeinschaft „Der Blaue Reiter" (so genannt nach einem Gemälde Kandinskys) war die entwicklungsgeschichtlich bedeutsamste im Deutschland vor 1914. „Der Blaue Reiter" war in München beheimatet, das um die Jahrhundertwende ein Hauptort des Jugendstils — also einer ihrer ganzen Tendenz nach ornamentalen Kunst — war.

1896 kam, um seine künstlerische Ausbildung zu absolvieren, Wassily Kandinsky hierher, etwa zur selben Zeit trafen Alexander von Jawlensky und Marianne Werefkin in München ein, 1898 Alfred Kubin und Paul Klee. Seit 1900 studierte in München Franz Marc. Die Künstler wußten damals noch nichts voneinander. Sie malten münchnerisch-akademisch, nahmen um 1904 Einflüsse Cezannes, Gauguins, van Goghs und vor allem der Neo-Impressionisten auf, deren Werke damals in deutschen Ausstellungen gezeigt wurden. Um 1906 tendierten Kandinsky und Jawlensky zur Flächigkeit und Farbigkeit der Fauvisten. Die schöpferischen jungen Kräfte drängten zum Zusammenschluß; die 1892 unter Stuck, Trübner und Uhde gegründete Sezession bot den Vorwärtsstrebenden keine Bewegungsfreiheit. Schon 1902 hatte Kandinsky den Vorsitz einer selbständigen Vereinigung, der „Phalanx", übernommen. 1909 gründete er nun gemeinsam mit Erbslöh, Jawlensky, Kanoldt Kubin, Gabriele Munter, Marianne von Werefkin, Schnabel und Wittenstein die „Neue Künstlervereinigung"; die erste Ausstellung fand vom Dezember 1909 bis zum Januar 1910 in der Münchener Galerie Thannhauser statt. Dank der von ihrem Präsidenten Kandinsky entwickelten Initiative zog die „Neue Künstlervereinigung" alsbald auch andere Künstler an, die mit den Konventionen gebrochen hatten: Bechtejeff, Erma Bossi, Kogan, Sacharoff (1909), Girieud, Le Fauconnier (1910), Franz Marc, Otto Fischer (1911) und Mogilewsky (1912). Zur Teilnahme an ihren Ausstellungen lud die „Neue Künstlervereinigung" ein: Picasso, Braque, Derain, Rouault, Vlaminck und van Dongen. Ein festumrissenes Programm gab es nicht. Um in der Mannigfaltigkeit der Bestrebungen die innere Einheit und die Bedeutung der Gemeinschaft zu zeigen, bereiteten Marc und Kandinsky im Juli 1909 einen Almanach vor, der unter dem Titel „Der Blaue Reiter" Aufsätze über ästhetische und bildnerische Probleme vereint. Vor dem Erscheinen des Buches brachen jedoch wegen Juryfragen bei der dritten gemeinsamen Ausstellung Meinungsverschiedenheiten aus (Dezember 1911), die Kandinsky, Kubin, Marc und Gabriele Munter veranlaßten, aus der Vereinigung auszutreten; am 18. Dezember 1911 eröffneten sie in der Galerie Thannhauser eine eigene Ausstellung, der — wie dem Almanach — Kandinskys Bild den Namen lieh; zugleich wurde „Der Blaue Reiter" zum »Nom de guerre« der Gemeinschaft. Diese erste programmatische Ausstellung enthielt 43 Gemälde von Henri Rousseau, Delaunay, Epstein, Kahler, Macke, Bloch, Schönberg, David und Wladimir Burljuk, Bloe-Niestle, Gabriele Munter, Kandinsky, Marc und Campendonk. Eine zweite Ausstellung, die drei Monate danach in der Galerie Goltz stattfand, beschränkte sich auf Zeichnungen und Holzschnitte; indes war der Kreis durch Gäste von der „Neuen Sezession" in Berlin und von der „Brücke" erweitert. Als ausländische Weggenossen waren Braque, Derain, Picasso, La Fresnaye, Vlaminck, Lotiron, Vera und die Russen Larionov, Nathalie Gontcharova und Malevitch mit Arbeiten vertreten. 1912 schloß sich dem „Blauen Reiter" Paul Klee an, den insbesondere die Werke Kandinskys, Marcs und Delaunays beeindruckt hatten; von ihm wurde zunächst eine Reihe poesievoller Aquarelle gezeigt. Gemeinsam mit dem auf ihren Wunsch hin eingeladenen Lyonel Feininger waren die „Blauen Reiter" 1913 Teilnehmer des „Ersten deutschen Herbstsalons" in Berlin. Die Gruppe war im besten Zuge, ihre Basis zu festigen und sich zu entfalten, als der Krieg ihr ein Ende bereitete. Kandinsky mußte — gleich den anderen Russen — Deutschland verlassen, Macke fiel 1914, Franz Marc 1916. Am „Bauhaus" in Weimar und Dessau begegneten Kandinsky, Klee und Feininger einander später wieder. In der Malerei des „Bauhauses" wirkte die Idee des „Blauen Reiters" modifiziert fort.

Was für den „Blauen Reiter" wesentlich war, ist nicht in eine knappe Formel zu fassen. Der wichtigste Teil des gedanklichen Einstands wurde jedenfalls von Kandinsky beigetragen, der seine fundamentalen Überlegungen 1910 in seinem Buch „Über das Geistige in der Kunst", das im Januar 1912 bei R. Piper in München erschien und bis zum Ende des Jahres weitere zweimal aufgelegt werden mußte, mitgeteilt hat. Kandinsky untersuchte hier die Ausdrucks- und Kompositionswerte der Formen und Farben, wobei er sich zum Teil auf Erkenntnisse Goethes („Farbenlehre") berufen konnte; praktische Beispiele einer mehr oder weniger spontanen Anwendung der Farben im Sinne einer psychologischen und expressiven Wirkung lagen ihm vor in seinen eigenen früheren Werken, in denen von Marc, den Fauves, einigen Expressionisten und den vielen anonymen Volkskünstlern, auf die er nachdrücklich hinwies. Seine in dem Buch „Über das Geistige in der Kunst" und in dem Aufsatz „Über die Formfrage" (im Almanach „Der Blaue Reiter") skizzenhaft dargelegte Psychologie der Farben und Formen hat Kandinsky später in seiner Bauhaus-Schrift „Punkt und Linie zu Fläche" (1926) eingehend begründet. Demnach haben die Bildelemente einen spezifischen Ausdrucksgehalt. Bei den reinen Farben und Formen kann er am eindeutigsten definiert werden. So wird etwa der Kreis als Element der Ruhe, das Dreieck als Ausdruck der Energie empfunden; die unendliche Zahl von Kombinationen und Variationen ermöglicht es jedem, sich sein individuelles bildnerisches Idiom zu erschaffen. Vollkommen neu war nun also, dass Kandinsky — auf Grund seiner Einsichten in die vom „Gegenstand" unabhängige Psychologische Wirkung der Bildelemente — die Autonomie der Farben und Formen forderte. Kandinsky hat damit um 1911 die theoretischen und praktischen Voraussetzungen der abstrakten Malerei geschaffen. Er selbst zog übrigens den synonymen Begriff „absolute Malerei" vor. Die Lehren Kandinskys wurden durchaus nicht zur Doktrin des „Blauen Reiters" erhoben; indes hat wohl jeder auf seine Weise von ihnen gelernt. Im Katalog der ersten Ausstellung des „Blauen Reiters" wird ausdrücklich festgestellt, man bezwecke nicht, „eine präzise und spezielle Form zu propagieren", sondern „in der Verschiedenheit der vertretenen Formen zu zeigen, wie der innere Wunsch der Künstler sich mannigfaltig gestaltet". Aufbruchstimmung klingt denn auch aus dem programmatischen Almanach „Der Blaue Reiter" heraus. Das neue Gedankengut — sei es eigenes, sei es aus Paris und Berlin übernommen — ist in diesem Augenblick der Entwicklung noch nicht gefiltert; es schöpferisch anzuverwandeln, wird in den nächsten Jahren eine Hauptaufgabe des individuellen und des gemeinsamen Arbeitens sein, ohne dass dadurch die Gültigkeit des Kandinsky-Wortes eingeschränkt würde, jede Form sei legitim, wenn sie innerlich notwendig ist.

Im Almanach „Der Blaue Reiter" ist zweifellos Kandinskys Aufsatz „Über die Formfrage" der wichtigste Beitrag. Franz Marc resümiert in seinem Aufsatz über „Die Wilden" (gemeint im Sinne des Fauvismus), wo überall die junge Künstlergeneration begonnen hat, neue Traditionen zu gründen, er begrüßt die Kameraden und beleuchtet besonders die Entwicklung in Deutschland, während David Burljuk von den Gleichstrebenden in Rußland und Roger Allard von jenen in Frankreich, von den Kubisten, Bericht gibt, und Erwin von Busse über Delaunays Kompositionsmittel spricht. Neben Werken dieser Künstler werden Bauernmalereien aus den Alpen und aus Rußland und Kinderzeichnungen reproduziert — Sehnsucht nach den Ursprüngen hat die „Blauen Reiter" gepackt, ungefähr gleichzeitig mit Apollinaire in Frankreich erschließen sie sich ein bisher unbeachtetes Gelände der Kunst. Theodor von Hartmann, Sabanejeff und Arnold Schönberg erörtern die Voraussetzungen einer neuen Musik (mit Notenbeispielen), wie sie dann später von Schönberg realisiert wurde.

Der „Blaue Reiter" war international, geistig wie personell. In den zwei Jahren, die ihm von 1912 bis zum Kriegsausbruch blieben, traten neben dem überragenden Kandinsky und dem wegen seiner mehr kontemplativen Begabung für das gemeinsame geistige Wachstum besonders wichtigen Franz Marc zwei andere hervor: Paul Klee und August Macke. Delaunay ist durch den starken Einfluß, den er auf Marc ausübt, mittelbar dabei. Die Tendenz zur Abstraktion, mit der Kandinsky ja längst Ernst gemacht hatte, scheint sich zu verstärken. Da zerstört der Krieg die Gemeinschaft, der „Blaue Reiter" bleibt ein Fragment — und ein Faktor, der nach 1918 fortwirken wird.

Programmpunkte und Ziele der Gruppe:

Die große Umwälzung;

Das Verschieben des Schwerpunktes in der Kunst, Literatur und Musik;

Die Mannigfaltigkeit der Formen: das Konstruktive, Kompositionelle dieser Formen;

Die intensive Wendung zum Inneren der Natur und der damit verbundene Verzicht auf das Verschönern des Äußeren der Natur — das sind im allgemeinen die Zeichen der neuen inneren Renaissance.

Die Merkmale und Äußerungen dieser Wendung zu zeigen, ihren inneren Zusammenhang mit vergangenen Epochen hervorzuheben, die Äußerung der inneren Bestrebungen in jeder innerlich klingenden Form bekanntzumachen — das ist das Ziel, welches zu erreichen „Der Blaue Reiter" sich bemühen wird.

Franz Marc: Die „Wilden" Deuntschlands

In unserer Epoche des großen Kampfes um die neue Kunst streiten wir als „Wilde", nicht Organisierte, gegen eine alte, organisierte Macht. Der Kampf scheint ungleich; aber in geistigen Dingen siegt nie die Zahl, sondern die Stärke der Ideen. Die gefürchteten Waffen der „Wilden" sind ihre neuen Gedanken...

Wer sind diese „Wilden" in Deutschland? Ein großer Teil ist wohlbekannt und vielbeschrien: Die Dresdener „Brücke", die Berliner „Neue Sezession und die Münchener „Neue Vereinigung" ...

Die ersten und einzigen Vertreter der neuen Ideen waren in München zwei Russen, die seit vielen Jahren hier lebten und in aller Stille wirkten, bis sich ihnen einige Deutsche anschlössen. Mit der Gründung der Vereinigung begannen dann jene schönen, seltsamen Ausstellungen, die die Verzweiflung der Kritiker bildeten.

Charakteristisch für die Künstler der „Vereinigung" war ihre starke Betonung des Programms; einer lernte vom andern; es war ein gemeinsamer Wetteifer, wer die Ideen am besten begriffen hatte. Man hörte wohl manchmal zu oft das Wort „Synthese".

Befreiend wirkten dann die jungen Franzosen und Russen, die als Gäste bei ihnen ausstellten. Sie gaben zu denken und man begriff, dass es sich in der Kunst um die tiefsten Dinge handelt, dass die Erneuerung nicht formal sein darf, sondern eine Neugeburt des Denkens ist.

Die Mystik erwachte in den Seelen und mit ihr uralte Elemente der Kunst.

Es ist unmöglich, die letzten Werke dieser „Wilden" aus einer formalen Entwicklung und Umdeutung des Impressionismus heraus erklären zu wollen. Die schönstenprismatischen Farben und der berühmte Kubismus sind als Ziel diesen „Wilden" bedeutungslos geworden.

Ihr Denken hat ein anderes Ziel: Durch ihre Arbeit ihrer Zeit Symbole zu schaffen, die auf die Altäre der kommenden geistigen Religion gehören und hinter denen der technische Erzeuger verschwindet ...

(Aus: „Der Blaue Reiter", Verlag R. Piper, München, 1912)

Franz Marc: Aphorismen

Traditionen sind eine schöne Sache; aber nur das Traditionenschaffen, nicht von Traditionen leben.

Jeder Formbildner und Ordner des Lebens sucht das gute Fundament, den Fels, auf dem er bauen kann. Dies Fundament fand er nur äußerst selten in der Tradition; sie hat sich meist als trügerisch und nie als sehr dauerhaft erwiesen. Die großen Gestalter suchen ihre Formen nicht im Nebel der Vergangenheit, sondern loten nach dem wirklichen, tiefsten Schwerpunkt ihrer Zeit. Nur über ihnen können sie ihre Formen aufrichten.

... Unser europäischer Wille zur abstrakten Form ist ja nichts anderes als unsre höchst bewußte, tatenheiße Erwiderung und Überwindung des sentimentalen Geistes ...

So erscheint dem späten Denker das Abstrakte wieder als das natürliche Sehen, als das primäre, intuitive Gesicht, das Sentimentale aber als hysterische Erkrankung und Reduktion unseres geistigen Sehvermögens ...

Reinheit und Helle; befreit sie von der alten Fessel der Konsonanz. Mit heißem Auge und feurigem Ohr durch die neuen Jagdgründe ziehen. Das Aufblühen des Unbekannten.

Franz Marc

Franz Marc wurde 1880 als Sohn eines Malers in München geboren. Er besuchte von 1900 an die Münchner Akademie als Schüler von Hackl und Diez. 1903 reiste er nach Paris und in die Bretagne und bekam Berührung mit dem Impressionismus. Der Jugendstil, die fortschrittlichste künstlerische Bewegung der Zeit, half ihm, sich mit größerer Entschiedenheit Formprobleme zu stellen, als das an der Akademie üblich war. Während einer zweiten Reise nach Paris im Jahr 1907 wurde er stark von van Gogh beeindruckt. 1907 und 1908 malte er in Indersdorf und Lenggries. Den Sommer 1909 verbrachte er in Sindelsdorf, wohin er 1910 ganz übersiedelte. 1910 fand auch seine erste Ausstellung in der Galerie Brackl in München statt. Marc lernte Macke kennen, der sein bester Freund werden sollte, und wenig später auch Kandinsky. Gemeinsam versuchten sie der neuen Malerei einen Weg zu bahnen und veröffentlichten das almanachartige Buch „Der Blaue Reiter" (Verlag R. Piper). 1911 schrieb Marc eine leidenschaftliche Verteidigung für die Neue Münchner Künstlervereinigung. Von 1911 an ging Franz Marc seinen eigenen Weg. In der Zeit bis zu seinem Auszug in den Krieg schuf er das Beste seines Werkes. Nach seinen pointillistischen Versuchen gebrauchte Franz Marc die Farbe bald auf eine freiere Art, welche an die „Fauves" denken läßt. 1912 etwa wird der Einfluß des Kubismus spürbar, aber der wichtigste Einfluß ist für Marc, ebenso wie für seinen Freund Macke, der Delaunays. Die großen Bilder des Jahres 1913 erreichen eine geradezu mythische Kraft. Von den großen Tierbildern führt der Weg auf die Abstraktion hin, die indessen außerordentlich lyrisch empfunden bleibt. Franz Marc fiel 1916 vor Verdun.

Wassily Kandinski

Wassily Kandinsky wurde 1866 in Moskau geboren. Er begann seine Studien in Odessa. In Moskau studierte er Jurisprudenz und Volkswirtschaft und nahm an einer ethnographischen Expedition in das Innere Rußlands teil, wo ihn die bäuerliche Volkskunst beeindruckte. Als Dreißigjähriger gab er die Juristerei auf, um malen zu lernen. Er ging nach München, besuchte die private Malschule von Azbe, wo er Jawlensky traf, dann (als Schüler von Franz Stuck) die Kunstakademie. 1902 eröffnete er in München eine eigene Schule für Zeichnen und Malen und wurde Präsident der Künstlervereinigung „Phalanx". Er trat 1902 der Berliner Sezession, 1903 dem Deutschen Künstlerbund bei. Auch im Pariser „Herbstsalon" stellte er aus. Während der Jahre 1903 und 1907 war er viel auf Reisen. Er besuchte Kairuan in Tunesien und fuhr nach Holland und Italien. Ein Jahr lang hielt er sich in Sevres, in der Nähe von Paris, auf. Von 1908 bis zum Kriegsausbruch lebte er in München und Murnau. 1910 malte er seine ersten, ganz und gar vom Naturalismus freien Werke und schrieb sein Buch „Über das Geistige in der Kunst", das 1912 von Reinhard Piper verlegt wurde. Er traf mit Franz Marc, August Macke und Paul Klee zusammen und gab gemeinsam mit Franz Marc das Jahrbuch „Der Blaue Reiter" heraus. Die erste Kollektiv-Ausstellung Kandinskys fand in Berlin in der Galerie „Der Sturm" im Jahre 1912 statt. 1913 erscheint im Verlag „Der Sturm" ein Kandinsky-Album, und Reinhard Piper verlegt im gleichen Jahr „Klänge", eine Sammlung von Gedichten und Holzschnitten Kandinskys. In Rußland, wohin er 1914 zurückkehrte, wirkte Kandinsky zwischen 1917 und 1921 als akademischer Lehrer und Organisator des Kunstunterrichtes. 1921 war er in Berlin, wo ihn seine Berufung an das Weimarer (später Dessauer) „Bauhaus" erreichte, dem er bis 1933 angehörte. 1933 ließ er sich in Neuilly-sur-Seine nieder, wo er 1944 starb.

August Macke wurde 1887 in Meschede im Sauerland geboren. Seine Kindheit verbrachte er in Köln und Bonn. Er studierte an der Akademie und der Kunstgewerbeschule in Düsseldorf. Im Herbst 1907 war er Schüler von Corinth in Berlin. Im Jahre 1907 und 1908 unternahm er Reisen nach Paris und lernte so frühzeitig schon die französische Malerei kennen. Seit seiner Heirat im Jahre 1909 war er in Bonn ansässig. Vom Herbst 1909 bis zum Herbst 1910 lebte er in Tegernsee. Hier lernte er Franz Marc kennen, der ihn mit der Neuen Münchner Künstlervereinigung, mit Kandinsky und Jawlensky in Verbindung brachte. Macke und Marc freundeten sich bald an. 1911 war er bei Marc in Sindeisdorf und bei Kandinsky in Murnau. 1912 unternahm er gemeinsam mit Franz Marc eine Reise nach Paris und lernte Delaunay kennen. 1914 reiste er mit Paul Klee und dem Schweizer Maler Louis Molliet nach Kairuan in Tunis. Nach seiner Rückkehr blieben ihm nur noch wenige Wochen bis zu seiner Einberufung zum Frontdienst. Er fiel schon am 16. September 1914, erst 27 Jahre alt.

Man ist versucht, das Werk Mackes nur in Verbindung mit der Künstlergruppe „Der Blaue Reiter" zu sehen. Aber seine künstlerische Haltung ist sehr verschieden von der Kandinskys und Franz Marcs. Während Kandinsky und Marc einer gei­stigen Wirklichkeit direkten Ausdruck verleihen wollten, bleibt Macke der optischen Welt durchaus verbunden. „Er war das Sonntagskind der modernen Malerei, das heiter, sicher und im Glück seinen kurzen Erdenweg durchschritt."

Paul Klee

Paul Klee wurde 1879 in Münchenbuchsee bei Bern als Sohn eines fränkischen Musikers und einer Schweizerin südfranzösischer Herkunft geboren. Er studierte an der Münchner Kunstakademie als Schüler von Knirr und Stuck. 1901 unternahm er gemeinsam mit dem Bildhauer Hermann Haller eine Italienreise. 1906 ließ er sich in München nieder, nachdem er eine Pianistin geheiratet hatte. In dieser Zeit war Klee primär Zeichner. Alfred Kubin, dem die skurillen versponnenen Blätter auffielen, wies Kandinsky auf den jungen Künstler hin. Vom Jahr 1912 an datiert eine innige freundschaftliche Verbindung zwischen Klee und Kandinsky. 1912 reiste Klee nach Paris, wo er Apollinaire, Picasso und Delaunay kennenlernte; einen Aufsatz Delaunays über das Licht übersetzte er für die Berliner Wochenzeitschrift „Der Sturm". Sicher gehört die Begegnung mit der neueren französischen Malerei, insbesondere mit den Werkenvon Cezanne, van Gogh und Matisse, zu den Ereignissen, die nachhaltig auf seine Entwicklung einwirkten. Ebenso entscheidend war die Reise nach Tunis, die er 1914 gemeinsam mit August Macke und seinem Schweizer Jugendfreund Louis Molliet unternahm. Von 1922 bis 1930 unterrichtete Klee am Weimarer und Dessauer Bauhaus. Die Weimarer Zeit ist eine Phase außerordentlicher Produktivität. Von allen Seiten strömen Anregungen auf Klee ein. In seinem in der Reihe der Bauhauspublikationen erschienenen „Pädagogischen Skizzenbuch" hat er seine tiefen Einsichten in das Wesen des künstlerischen Schaffens und des Kunstunterrichtes formuliert. Von 1931 bis 1933 war er Professor an der Düsseldorfer Akademie. Als ihn die Nazis von dort vertrieben, verließ er Deutschland und lebte in der Schweiz. Er starb 1940 in Mu-ralto-Locarno. — Klee hat eine unüberschaubare Zahl von Chiffren erfunden und ein Werk hinterlassen, das in sich voll­endet und zugleich fragmentarisch ist.

Alexej von Jawlensky

Alexej von Jawlensky wurde 1864 in Souslovo in der Nähe von Twer (Rußland) geboren. Er gab die Karriere eines Offiziers der kaiserlichen Garde auf, um malen zu können und studierte von 1889 an in Moskau sowohl an der Akademie als auch bei dem Maler Repin. 1896 trat er in München in die Malschule von Anton Azbe ein, wo er Kandinsky traf. Er ist mit Kandinsky, Kubin, Gabriele Munter und anderen einer der Gründer der Neuen Münchner Künstlergesellschaft (1909). Während des Krieges lebte er in der Schweiz. 1921 ließ er sich in Wiesbaden nieder. 1926 gehörte er mit Kandinsky, Klee und Feininger zur Gruppe „Die Blauen Vier".

Dieser russische Maler öffnete sich in München den Einflüssen westlicher Kunst. Cezanne und van Gogh wurden seine Vorbilder bei der Suche nach einer größeren und ausdrucksstärkeren Form. Eine Reise in die Bretagne und in die Provence machte seine koloristischen Gaben frei, die sich durch die Begegnung mit Matisse voll entfalten.

Die Malerei Jawlenskys ist frei und überschäumend. Sie ähnelt in ihrer starken primitiven Ausdrucksgewalt russischer Volkskunst. Er malte Landschaften, aber vor allem Köpfe und Halbfiguren, die er in einfache und monumentale Formen zwang. Er malte gleichsam neue Ikonen, die von einer tiefen mystischen Religiosität geprägt sind. „Die Kunst ist das Heim­weh Gottes", hörte man Jawlensky oft sagen. Während seiner letzten Jahre war Jawlensky durch Krankheit in seinem künstlerischen Schaffen behindert. Er starb 1941 in Wiesbaden.

Heinrich Campendonk

Heinrich Campendonk wurde 1889 in Krefeld geboren. Er lernte bei Thorn Prikker an der Krefelder Kunstgewerbeschule. Auf eine Einladung von Marc und Kandinsky hin ließ er sich 1911 in Sindelsdorf nieder, wo auch Marc damals sein Domizil hatte. 1916 — nach seiner Entlassung vom Militärdienst — übersiedelte er nach Seeshaupt. 1926 übertrug ihm die Düsseldorfer Akademie eine Professur, die er 1933 wieder niederlegen mußte; er emigrierte nach Amsterdam und ist seither Professor an der dortigen „Rijksakademie van beeidende Künsten".

Campendonk wurde vor allem durch seine kraftvollen Holzschnitte, die er in großer Zahl schuf, bekannt. Herwarth Waiden hat viele von ihnen im „Sturm" unmittelbar vom Holzstock drucken lassen. Wirklichkeit und Traum finden sich auf ihnen, ähnlich wie bei Chagall, vermischt. Tiere, Menschen und Pflanzen verbinden sich auf eine bezaubernde, ans Märchen anklingende Weise, zu Ornamenten. Campendonks Linienstrukturen sind gefälliger als die seiner Weggenossen, wie auch sein Temperament mehr zur Idylle und zum Märchenhaften, mehr zur poesievollen Schilderung als zur Kargheit strenger Konzeptionen neigt. Seine Eigenart hat sich am stärksten wohl in seinen Hinterglasbildern ausgedrückt, deren verlorengehende Technik Franz Marc neu zu beleben trachtete.

Wassily Kandinsky: Über die Formfrage

Zur bestimmten Zeit werden die Notwendigkeiten reif, das heißt: der schaffende Geist (welchen man als abstrakten Geist bezeichnen kann) findet einen Zugang zur Seele, später zu den Seelen und verursacht eine Sehnsucht, einen innerlichen Drang.

Wenn die zum Reifen einer präzisen Form notwendigen Bedingungen erfüllt sind, so bekommt die Sehnsucht, der innere Drang, die Kraft, im menschlichen Geist einen neuen Wert zu schaffen, welcher bewußt oder unbewußt im Menschen zu leben anfängt.

Bewußt oder unbewußt, sucht der Mensch von diesem Augenblick an dem in geistiger Form in ihm lebenden neuen Wert eine materielle Form zu finden.

... Die Form ist immer zeitlich, d. h. relativ, da sie nichts mehr ist, als das heute notwendige Mittel, in welchem die heutige Offenbarung sich kundgibt, klingt.

Der Klang ist also die Seele der Form, die nur durch den Klang lebendig werden kann und von innen nach außen wirkt.

Die Form ist der äußere Ausdruck des inneren Inhaltes.

Deshalb sollte man sich aus der Form keine Gottheit machen. Und man sollte nicht länger um die Form kämpfen, als sie zum Ausdrucksmittel des inneren Klanges dienen kann. Deshalb sollte man nicht in einer Form das Heil suchen ...

Die Notwendigkeit schafft die Form...

... Und also als letzter Schluß muß festgestellt werden: nicht das ist das wichtigste, ob die Form persönlich, national, stilvoll ist, ob sie der Hauptbewegung der Zeitgenossen ent­spricht oder nicht, ob sie mit vielen oder wenigen anderen Formen verwandt ist oder nicht, ob sie ganz einzeln dasteht oder nicht usw., sondern das wichtigste in der Formfrage ist das, ob die Form aus der inneren Notwendigkeit gewachsen ist oder nicht.

Paul Klee: Schöpferische Konfession

Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar. Das Wesen der Graphik verführt leicht und mit Recht zur Abstraktion. Schemen- und Märchenhaftigkeit desimaginären Charakters ist gegeben und äußert sich zugleich mit großer Präzision. Je reiner die graphische Arbeit, das heißt, je mehr Gewicht auf die der graphischen Darstellung zugrunde liegenden Formelemente gelegt ist, desto mangelhafter die Rüstung zur realistischen Darstellung sichtbarer Dinge.

... Wenn ein Punkt Bewegung und Linie wird, so erfordert das Zeit. Ebenso, wenn sich eine Linie zur Fläche verschiebt. Desgleichen die Bewegung von Flächen zu Räumen.

Entsteht vielleicht ein Bildwerk auf einmal? Nein, es wird Stück für Stück aufgebaut, nicht anders als ein Haus.

Und der Beschauer, wird er auf einmal fertig mit dem Werk? (Leider oft ja.)

 

Der Blaue Reiter

Die Gruppe "Der Blaue Reiter" entsteht 1912 in München, 1914 wird sie durch den Kriegsausbruch in ihrer Aktivität unterbrochen. 1986 waren drei junge russische Maler in München eingetroffen, um hier zu studieren: Wassily Kandinsky; Alexej von Jawlensky und Marianna von Werefkin. Kandinsky wurde zu einem der wesentlichsten Anreger des künstlerischen Lebens in München. Der Blaue Reiter", so erzählte W.Kandinsky, rückblickend, "wurde beim Kaffeetrinken mit Franz Marc in dessen Wohnung geboren". Beide Maler liebten die Farbe Blau und Marc besonders die Pferde. Sie galten ihm als Symbol des Heroischen und verkörperten eine neue Perspektive harmonischen Seins. Blau war für den introvertierten Maler die Farbe der Vergeistigung. Dieser Assoziation entwuchs eine der wichtigsten Künstlervereinigungen der neueren Kunstgeschichte. Zwar existierte "Der Blaue Reiter" nicht lange, dennoch war die Künstlergruppe der Boden für die Revolution der gegenstandslosen Malerei. W.Kandinsky, der Initiator und Theoretiker der Expressionistenvereinigung, wagte bereits 1910 sein erstes gegenstandsfreies Aquarell. 1911 schlossen sich Alfred Kubin, Gabriele Munter, August Macke, später auch Paul Klee und Alexej von Jawlensky den beiden Malern an. Kandinskys Ziel war gerade das Neue, Unbekannte zu suchen, herrschende Konventionen und Strömungen hinter sich zu lassen, neue Denkweisen auszubilden und den avantgardistischen Tendenzen im Ausland ein Forum zu bieten.

"Der Blaue Reiter" stellte keine homogene Künstlergemeinschaft dar, seine Mitglieder verstanden sich nicht als Schule, sondern als individuelle Vertreter progressiver Ideen und neuer Sichtweisen in der Malerei. Im Gegensatz zur "Brücke", die sich malerisch noch immer mit Inhalten, mit der Realität, Gesellschaft und ihren Deformierungen auseinandersetzte, richteten sich die Gedanken und Experimente vom "Blauen Reiter" ausschließlich auf die Bewältigung des Gegenstandes und seiner Form, ging der künstlerische Blick der Münchener Expressionisten in Richtung Utopie und suchte dort die Abstraktion des Seins. Noch vor dem spektakulären Erscheinen des Jahrbuches "Der Blaue Reiter" (1912) lieferte Kandinskys Buch "Über das Geistige in der Kunst" (1911) den Malern und ihren Zeitgenossen wichtige Denksätze. Darin entwickelte der Moskauer Jurist und Nationalökonom seine Theorie über den "reinen inneren Klang" der Malerei und seine verschiedenen Quellen: "Impression" nennt er die Eindrücke der äußeren Natur, "Improvisationen" das Unbewußte und Spontane innerer Vorgänge, "Kompositionen" schließlich die pedantisch ausgearbeiteten Entwürfe der Vernuft, das Bewußte und formal Zweckmäßige.

Für die Expressionisten war die Schwelle zur Abstraktion jedoch noch nicht überschritten. Vorerst mußten sie darum kämpfen, die Unabdingdarkeit der Wiedergabe von Wirklichkeit aufzuweichen und die Abbildung als solche relativieren. Hierfür benötigten sie einen neutralen motivischen Untergrund. Kandinsky fand ihn in bebauten und unbebauten Landschaften, August Macke in Menschenszenieren, Franz Marc in der Welt der Tiere. Schließlich sollte die Form sprechen, nicht ihr Inhalt. Bei den Expressionisten sind zwar Köpfe, aber selten Physiognomien zu finden; Häuser, aber keine Architekturen mit Wiedererkennungswert; Tiere, die Aussagen durch die Farbe ihrer Körper machen, nicht aber mit dem Ausdruck ihrer Augen. Tote oder lebendige Dinge sind die Schablonen einer Werteskala der Expressionen.

Gabriele Munter war die Schülerin Kandinskys, als dieser noch in der 1902 gegründeten, wenig erfolgreichen Malschule "Phalanx" unterrichtete. Sie wurde seine Gefährtin und lebte bis zum Jahre 1914 mit ihm zusammen. Größeren Einfluß auf ihr künstlerisches Werk hatte allerdings Alexej von Jawlinsky, mit dem sie die Vorliebe für große leuchtende Farbflächen und deren dunkle Konturierung teilte. Die Beschäftigung mit der Technik des Holzschnittes sowie die bayerische Volkskunst des Hinterglasmalens emanzipierten schließlich das Werk der Murnauer Malerin von den Einflüssen ihrer Künstlerfreunde.

 

Lesen Sie das Gespräch mit verteilten Rollen vor. Merken Sie sich dabei die Gesprächsformeln und die themenbezogene Lexik.

Fassen sie den Inhalt der drei Texte zu einer kurzen Aussage zusammen. Gehen Sie dabei auf die Unterschiede zwischen dem norddeutschen und süddeutschen Expressionismus ein.